Fallbericht Atropin bei der Reanimation

Heute möchte ich kurz von einer prolongierten Reanimation berichten:

Eine 54jährige Patientin ruft wegen "Kreislaufbeschwerden" den Rettungsdienst. Dem RTW-Team berichtet die Patientin, dass sie gestern erstmalig bei einer Kardiologin gewesen sei, die eine "Herzrhythmusstörung" (?) festgestellt habe und sie zu einer Koronarangiographie (?) eingewiesen habe - nun habe sie Brustschmerzen und Schwindel. Noch während die RTW-Besatzung das EKG anlegt und parallel einen Venenzugang legt kollabiert die Patientin und es sieht zunächst wie ein tonisch-klonischer Krampfanfall aus. Schnell wird aber klar, dass der scheinbare Krampfanfall Ausdruck der cerebralen Minderperfusion bei Kreislaufstillstand ist. Es wird die Reanimation begonnen, das EKG zeigt ein Kammerflimmern und es erfolgt eine prompte Defibrillation. Der Hubschrauber-Notarzt erreicht die Einsatzstelle leider erst ca eine halbe Stunde später aufgrund eines längeren Anflugs und Nebel an der Einsatzstelle, so dass er nochmal über eine weitere Distanz zugebracht werden muss.

Die Patientin befindet sich trotz qualitativ hochwertiger Reanimationsmassnahmen mit regelmäßigen Defibrillationen und Gaben von Adrenalin und Amiodaron im persistierenden Kammerflimmern. Der Atemweg ist mit einer supraglottischen Atemwegshilfe gesichert, das RTW-Team ist jedoch nicht glücklich mit der Dichtigkeit.

Es besteht also eine grundsätzlich schlechte Situation: Es war zwar ein beobachteter Kreislaufstillstand einer relativ jungen Patientin mit unmittelbarem ALS-Beginn, aber selbst nach 7mg Adrenalin, 450mg Amiodaron und 5 Defibrillationen befindet sich die Patientin immer noch im persistierenden Kammerflimmern. Wenn man sich das initiale EKG vor dem Kollaps genau anschaut, sieht man ST-Hebungen, so dass man in Zusammenschau von einer prolongierten Reanimation bei Myokardischämie ausgehen muss.

Im Team wird besprochen, dass parallel zur Reanimation die Patientin vom Notarzt endotracheal intubiert und parallel der Transport vorbereitet wird, dann will man gemeinsam entscheiden, ob es noch zum Transport in das ca 25km entfernte Zentrumsspital kommt. Bei der letzten Rhythmuskontrolle vor der Intubation wird erfreulicherweise festgestellt, dass sich nun doch ein ROSC eingestellt hat. Wenig später beginnt die Patientin auch mit einer Spontanatmung. Da sie aber anhaltend tief bewußtlos ist, wird eine Narkose eingeleitet und die Patientin intubiert.

Kurz darauf kommt es zu einem erneuten Kammerflimmern und es wird die Reanimation erneut begonnen. Das Team beschließt die Patientin ggf. unter Reanimation durch ein mechanisches Reanimationsgerät in die Klinik zu transportieren. In der Folge ist beinahe jede Defibrillation erfolgreich und es stellt sich ein zunächst normofrequenter Rhythmus ein. Innerhalb der nächsten Minuten kommt es dann aber jeweils zu einer Bradykardie mit Blutdruckabfall und schließlich wieder Kammerflimmern. Ein externer Schrittmacherversuch bleibt frustran, auch bei maximaler Energie kommt es zu keine elektromechanischen Kopplung. Das RTW-Team bietet dem Notarzt Atropin an, dieser lehnt aber zunächst dankend ab, da die Patientin mittlerweile über 10mg Adrenalin erhalten hat und er sich keinen weiteren Benefit durch Atropin erhofft.

Während des bodengebundenen Transports fällt in den Unterlagen der Patientin auf, dass diese neuerdings eine recht hohe Dosis Betablocker einnimmt. Dadurch könnte man sich erklären, dass die Patientin trotz der hohen Adrenalin-Gesamtdosis im ROSC nie wirklich tachykard wurde. Nun wurde in der weiterhin instabilen und auch verzweifelten Situation ein Versuch mit Atropin unternommen. Es mussten zwar 2x1mg Atropin verabreicht werden, dadurch konnte aber die Grundfrequenz deutlich angehoben werden. Darunter stabilisierte sich durch den verbesserten Auswurf auch etwas der Blutdruck. Schlußendlich konnte die Patientin über den Schockraum direkt in das Herzkatheterlabor verbracht werden, wo die verschlossene LAD wiedereröffnet wurde und sich der Zustand deutlich stabilisierte. Über den weiteren Verlauf ist nichts bekannt.

 

Warum stelle ich den Fall hier vor?

In den aktuellen ERC-Leitlinien wird Atropin bei der Reanimation der nicht defibrillationswürdigen Rhythmen nicht empfohlen. Es gibt nur Fallberichte und keine kontrollierten Studien, die einen Benefit ergaben. Lediglich bei den bradykarden Rhythmusstörungen wird Atropin weiterhin empfohlen mit einer Einzeldosis von 0,5mg bis zu einer Gedsamtdosis von 3mg, dem sagenumwobenen "kompletten Vagusblock". Ansonsten wird bei der Bradykardie niedrigdosiertes Adrenalin oder ein transkutaner Schrittmacher in der Präklinik empfohlen. Zudem gibt es noch weitere pharmakologische Taschenspielertricks, die ich aber hier mal nicht berücksichtigen möchte.

Schlußendlich handelt es sich ja hier auch nur um einen Einzelfall, in dem Atropin hilfreich war und man sollte dies auch nicht überbewerten. Vermutlich hatte durch die Betablockade das Adrenalin nicht den gewohnten Effekt und durch die Parasympathikolyse des Atropins bediente man sich eines anderen biochemischen/pharmakologischen Wegs.

Wie allgemein bekannt ist stehe ich auch zu 100% hinter den ERC-Leitlinien und unterrichte sie mit Leidenschaft. Dennoch muss man eben immer mal wieder sagen, dass es sich bei Leitlinien egal welcher Art immer um einen Konsens handelt, der für die Mehrheit der betroffenen Patienten richtig ist. Gerade der erfahrene Anwender muss aber auch die Grenzen von Leitlinien erkennen und dann manchmal die Empfehlungsgrenzen verantwortungsvoll überschreiten.

Oder wie es schon mir eindrücklich erklärt wurde:

"Leitlinien sind wie Straßenlaternen, sie weisen einem den Weg, aber nur der Betrunkene hält sich daran fest."

Pingelig betrachtet war Atropin ja auch in den Phasen des ROSC als Periarrestrhythmus indiziert und nur während der Reanimation nicht, aber in diesen Fällen mit wiederholten Reanimationsphasen und dann wieder ROSC tun sich die Leitlinien eh schwer, was auch absolut verständlich ist, denn sonst würde die Übersichtlichkeit erheblich leiden.

 

Abschließend möchte ich auch nochmal daran erinnern, warum schlußendlich bis zur Übergabe im Schockraum die invasiven Massnahmen ca. 90min und somit zweifelhafter Prognose fortgeführt wurden:

- Relativ junge Patientin

- Beobachteter Kreislaufstillstand ohne relevante no-flow time, sofortiger Beginn eines suffizienten ALS

- Primärer Rhythmus Kammerflimmern

- Bei ROSC sofortige suffiziente Eigenatmung und Notwendigkeit einer Narkoseeinleitung 

- Offensichtliche Myokardischämie als Ursache und somit potentiell reversibel

- Zwischenzeitlich mehrere Phasen von ROSC und das Gefühl, dass man positiv Einfluss auf den Zustand nehmen kann

 

Dennoch ist und bleibt es eine Einzelfallentscheidung des Rettungsteams so lange die Massnahmen fort zu setzen und ich bin froh, dass das Schockraumteam dies auch so respektiert und Verständnis gezeigt hat.