Notfallmedizinische Automatismen: Nicht immer ein Segen

Wir predigen in der notfallmedizinischen Aus- und Fortbildung leitlinien- und v.a. algorithmenbasiertes Arbeiten. Das ist auch gut und richtig so, weil es unser Arbeiten evidenzbasiert, aktuell und v.a. schnell macht. Man bedient sich hierbei auch dem sog. "Pattern Recognition", also einer Mustererkennung. Wir erkennen in einem Patienten bzw. seinen Symptomen ein bestimmtes Muster, welches in uns quasi den scheinbar bestmöglich passenden Algorithmus "auslöst". So müssen wir nicht jede Patientenversorgung von vorne durchdenken und planen, oder anders gesagt bei jedem Einsatz das Rad neu erfinden. Auf diese Art können wir unser Hirnschmalz schonen und handeln fast immer richtig. Hier unterscheidet sich auch der Routinier vom Novize, weil der die Muster schneller erkennt. Langjährige Erfahrung kann einem hier jedoch auch ein Schnippchen schlagen, weil die Gefahr von Fixierungsfehlern mitunter ansteigt. Während der Novize noch die Differentialdiagnosen durchgeht hat der "Altmeister" schon längst den Patienten in eine Musterschublade gesteckt.

 

So könnte es auch zu folgendem Fall gekommen sein:

Eine 72jährige Dame sucht ihren Hausarzt auf, weil sie seit ein paar Wochen gelegentlich einen retrosternalen Druck verspürt, welcher jedoch ohne weitere Massnahmen wieder vergeht. Da die Patientin die Situation nicht als dringlich ansieht, wartet sie geduldig auf einen Elektivtermin beim Hausarzt. Am Tage der Vorstellung ist sie komplett beschwerdefrei. In der hausärztlichen Praxis wird dann ein vermeintlich neuaufgetretener Linksschenkelblock (LSB) festgestellt. Seit Jahren weisen die einschlägigen Leitlinien darauf hin, dass bei PASSENDER SYMPTOMATIK ein LSB als STEMI-Äquivalent zu werten ist. Diese Aufwertung erfolgte auch dann, da man postulierte, dass bei einem Blockbild im EKG die ST-Strecke als Ischämiemarker nicht beurteilt werden könne. Dies ist auch zugegebenermassen nicht trivial, aber nicht unmöglich. So wurden zunächst die Sgarbossa-Kriterien entwickelt und später durch die Barcelona-Kriterien aktualisiert, welche auch eine ST-Analyse trotz LSB zulassen. Einen klasse Blogbeitrag hierzu von meinem geschätzten Kollegen Sebastian Casu findet ihr hier:

http://sebastian-casu.com/blog-57-stemi-bei-linksschenkelblock-die-barcelona-kriterien/

 

Aber nun zurück zum Fall: Der EKG-Ausdruck führte ohne weitere Nachfragen oder Abklärungen sofort zur Notarztalarmierung mit dem Stichwort "STEMI". Die Patientin wußte gar nicht, wie ihr geschah, denn schließlich fühlte sie sich heute blendend und gut belastbar. Aufgrund der ländlichen Lage entschloss sich die Rettungsleitstelle auch gleich zu einer Parallelalarmierung eines RTH, da das lokale Herzkatheterlabor nur zu den Bürozeiten besetzt ist.  Der bodengebundene Notarzt meldete parallel zur Standardversorgung (300mg ASS, 5000IE Heparin, 2mg Morphin)  schließlich die Patientin unter Umgehung näher liegender kleinerer Krankenhäuser in einem ca 60km entfernten Maximalversorgerhaus an und verbrachte die Dame dann zum Hubschrauberlandeplatz. Dort angekommen klagte sie über Palpitationen, Angst und leichte Übelkeit. Die Herzfrequenz lag bei 115/min und der RR bei 200/110mmHg. Auch darunter kam es jedoch weder zu Luftnot noch zu pectanginösen Beschwerden. Sie war erschüttert über die Diagnose eines Herzinfarktes und machte sich große Sorgen um ihre Familie.

Zur Anxiolyse und Stressreduktion wurden neben 4mg Ondansetron auch die restlichen 8mg Morphin sowie 5mg Metoprolol verabreicht, woraufhin sich alle Beschwerden unmittelbar legten. Nach telefonischer Rücksprache mit dem aufnehmenden Zentrum erfolgte dort ein Downgrade der Patientin hin zu einem "NSTEMI-ACS" und somit Vorstellung über die Notaufnahme und nicht gleich im Herzkatheterlabor. Schlußendlich genoß die Patientin sichtlich den Flug, auch wenn sie weiterhin die Krankenhausaufnahme an sich für übertrieben hielt. Bei der Übergabe war die Herzfrequenz bei 75/min und der RR 135/83. Dies verschlechterte sich auch nicht, obwohl der aufnehmende Klinikarzt die Übergabe mit einem Kopfschütteln quittierte.

 

Was ist nun die Lehre aus der Geschichte: Klar gibt es atypische Präsentationen eines ACS, neben Diabetikern sind insbesondere Frauen hiervon betroffen. Bei den ACS-Kriterien werden jedoch schon Symptome irgendeiner Art gefordert, beim STEMI noch mehr. Hier lag aber durch den scheinbar neu aufgetretenen LSB ein Fixierungsfehler vor, welcher zu einer ganzen Versorgungskaskade führte.

 

Trotzdem mag ich aber nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute (Kollegen) zeigen: Auch mir sind schon so viele Fixierungsfehler unerlaufen, nur dieser Fall hier ist so ein schönes Beispiel, dass ich es hier aufgegriffen habe.

 

Man darf jedoch festhalten, dass es die Patientin nicht gefährdet sondern vielmehr zu einer qualitativ extrem hochwertigen und definitiven Abklärung geführt hat. Die hohen Kosten und der Ressourceneinsatz blenden wir aber mal wohlwollend aus...

Es wäre auch nicht verwunderlich, wenn sich diese Fälle häufen aus einem hohen Sicherheitsbedürfnis der ärztlichen und nichtärztlichen Kollegen heraus: Viele scheuen die Diskussionen, Argumente und vermeintlich drohende Konsequenzen einer Risiko- und Ressourcenabwägung. Aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus die Maximalvariante der Versorgung zu wählen lässt sich immer irgendwie rechtfertigen bzw. durchsetzen. Andererseits strapaziert dies natürlich die Versorgungsressourcen. Ich versuche es mir daher nicht leicht zu machen, sondern rational, analytisch sowie weitsichtig die Situation zu erfassen, um Fixierungsfehler zu minimieren (ausschließen können es Menschen nie). Dies ist dann mit den Bedürfnissen und Wünschen des Patienten ab zu gleichen bzw. in Einklang zu bringen. Dies kostet jedoch Zeit und gute Argumente bzw. ein ehrlich-empathisches Gespräch. Lauter Dinge, mit denen wir in der Notfallmedizin häufig nicht gesegnet sind, dennoch liebe ich dieses Spannungsfeld!