Fallbericht: Die Sache mit den Differentialdiagnosen

RTW und NEF werden unter dem Stichwort „Bewußtlosigkeit“ in den Morgenstunden zu einem bekannten alkoholkranken gut 60jährigen Herrn gerufen. An der Einsatzstelle werden sie von einer Frau in Empfang genommen, die angibt den Herrn am Boden liegend aufgefunden zu haben, als sie mit Hilfe ihres Wohnungsschlüssel nach ihm schauen wollte. Zunächst habe er sich gar nicht gerührt, nun sei er mittlerweile mit Mühe aufgestanden und würde sich nun auf der Toilette befinden. Der Notfallsanitäter kann berichten, dass er in der letzten Woche bereits zweimal wegen eines Sturzes unter Alkoholeinfluss bei diesem Mann war, er jeweils aber die Behandlung verweigerte hat und auch keine offensichtlichen Verletzungsfolgen aufgewiesen habe.

In der Wohnung angekommen wird der Patient tatsächlich auf der Toilette sitzend angetroffen.

A: Frei

B: Tachypnoe ca 30/min

C: Marmoriertes Hautkolorit und kalte Extremitäten,  Rekap-Zeit deutlich verlängert, Puls ca 130/min

             D: Verlangsamt und desorientiert (GCS14), bewegt alle vier Extremitäten spontan, versteht die Aufregung durch seine            Betreuungsperson nicht. Auf die Frage warum und wie lange er am Boden gelegen ist kann/will er keine Auskunft geben. Pupillen mittelweit und seitengleich.

E: Er gibt an ihm würde „Blut aus dem Arsch“ laufen, nun ist die Toilette jedoch leer. Es fällt jedoch tatsächlich eine verblutete Unterhose auf. Am Fuß fällt eine chronische Wunde auf, die nur unzureichend verbunden ist. Am Kopf sieht man Wundklammern nach einer frontalen Platzwunde.

 

Aufgrund der engen und vermüllten Wohnung entschließt man sich zunächst zum raschen Transport im Tragestuhl in den Rettungswagen. Dort lassen sich zusätzlich folgende Parameter erheben:

-      Puls 136/min, Sinustachykardie im EKG

-      Blutdruck 100/50 mmHg

-      Temperatur 35,4° C tympanal

-      BZ 164mg/dl

-      SpO2 90% bei Raumluft

-      Pupillen mittelweit und seitengleich

 

Es werden 6l/min per Sauerstoffmaske verabreicht sowie ein 16G-Venenzugang zur Infusion von 1000ml einer Vollelektrolytlösung gelegt.

 

Diesmal ist der Patient mit einer Krankenhauseinweisung einverstanden bzw. er hat dieser nichts entgegen zu setzen. Angefahren wird das zuständige Kreisklinikum nach Schockraumanmeldung .... aber mit welcher Diagnose... es ist so Vieles möglich... was ist am wahrscheinlichsten?

 

Er erfüllt den qSOFA-Score für septische Patienten durch seine Hypotonie, die Tachypnoe über 22/min sowie die Vigilanzminderung. Gründe für eine Sepsis gibt es scheinbar genug: Die chronische Wunde am Fuß, eine Pneumonie, eine Urosepsis, eine Meningoencephalitis, Covid19 etc.

Daher wird dem Krankenhaus der Arbeitshypothese Sepsis plus V.a. eine UGI-Blutung mitgeteilt.

 

Der Transport erfolgt mit Sonderrechten und der Patient wird schließlich dem wartenden Schockraumteam übergeben. Hierbei wird auch noch einmal abschließend die Arbeitshypothese genannt, aber auch potentielle Differentialdiagnosen formuliert.

 

Mögliche Differentialdiagnosen ohne Anspruch auf Vollständigkeit bei diesem Patienten:

 

SHT: Der Patient ist in der letzten Zeit mehrfach gestürzt und könnte eine Gerinnungsstörung durch die Alkoholkrankheit mit Leberbeteiligung haben, für die auch der peranale Blutabgang sprechen könnte.

 

Alkohol(entzugs)delir: Der Patient riecht nicht nach Alkohol, in der Wohnung waren auch nur leere Flaschen sichtbar. Der Patient gibt an seit mehreren Tagen nichts mehr getrunken zu haben, weil er nichts daheim habe und es ihm für einen Einkauf zu schlecht ginge.

 

Intoxikation: In der Wohnung waren zwar keine weiteren Noxen offensichtlich, aber potentiell möglich

 

Beginnend hämorrhagischer Schock bei UGI-Blutung: Denkbar bei Tachykardie, Zentralisation, Tachypnoe, Vigilanzminderung und blassem Hautkolorit sowie ggf. Gerinnungsstörung.

 

Tumor: Wesens- und nun auch Vigilanzänderung, das Gesundheitswesen wurde außer unfreiwillig bei den Alkoholeskapaden gemieden.

 

Hepathische Encephalopathie: Jahrelange Alkoholkrankheit mit offensichtlichem Leberschaden im Sinne eines leichten Ikterus.

 

Wernicke-Korsakow-Syndrom: Durch die alkoholbedingte Vitamin B1-Mangelernährung

 

Psychiatrischer Ausnahmezustand: Suchterkrankung, vorbekannte depressive Stimmungslage.

 

Usw....usw... Für alle Differentialdiagnose gibt es Hinweise, andere Punkte sprechen aber auch jeweils dagegen. Oder ist es gar eine Kombination im Sinne von „Läuse und Flöhe“?

 

Haben wir an Alles gedacht?

 

Die Auflösung: Es ließ sich keine UGI-Blutung nachweisen, das Blut stammte eher von einem sacralen infizierten und blutenden Dekubitus. Im Schädel-CT konnte eine Blutung sowie Hirnödem ausgeschlossen werden. Alkohol ließ sich im Blut nicht nachweisen und auch das sonstige Drogenscreening blieb negativ. Es gibt eine Infektkonstellation im Blut, welche jedoch eine ernst zu nehmende Sepsis unwahrscheinlich macht. Die Leberwerte sind schlecht, aber nicht so tragisch wie bei einem Leberausfall, ebenso ist die Gerinnung nur mittelgradig eingeschränkt.

 

ABER: Bereits im Schockraum konnte als den Zustand erklärend in der BGA eine schwere Hyponatriämie mit 111 mmol/l aufgedeckt werden. Nebenbefundlich kam der infizierte Dekubitus und ein Liegetrauma mit erhöhtem CK und Myoglobin hinzu.

 

Eine schwere Hyponatriämie kann den Zustand des Patienten absolut erklären, kann aber erst in der Klinik festgestellt und therapiert werden (durch langsamen Natriumausgleich um eine zentrale pontine Myelinolyse zu vermeiden).

 

Es wurde also bei der präklinischen Versorgung nichts versäumt oder falsch gemacht. Ich stelle den Fall vielmehr hier vor um auf zu zeigen, dass gerade solche mitunter unbeliebte Patienten einen bunten Blumenstrauss an Differentialdiagnosen für uns bereithalten und die Behandlung zu einer wahren Herausforderung werden lassen, die fachlich Alles von uns abverlangt. 

Grundsätzlich bin ich froh, dass es mittlerweile allgemein in den Notaufnahmen akzeptiert ist Patienten auch nur mit ihrem Leitsymptom und der Angabe des eingeschätzten Schweregrades an zu melden. Dies hilft Fixierungsfehler zu vermeiden, in dem ich nicht mehr den Patienten mit einer fertigen Diagnose „verkaufen“ muss, obwohl ich es noch gar nicht nachweisen kann. So kann/muss das aufnehmende Team den Patienten viel offener und strukturierter abarbeiten. Hierzu ist aber wie in diesem Fall ein offener und kollegialer Umgang zwischen Präklinik und Notaufnahme notwendig. So entwickelt sich ein fruchtbarer Dialog zugunsten unserer Patienten.