Ich glaube ich werde zum Hirsch! Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht -so heißt das Sprichwort, aber es stimmt wohl, wie ich mal wieder erfahren durfte. Das Alarmierungsstichwort lautete „beginnende Geburt“. Bei meinem Eintreffen empfängt mich ein junger Mann aufgeregt auf der Strasse mit den Worten „Wir dachten meine Frau ist nicht schwanger und nun liegt ein Kindlein im Badezimmer“. Ich gehe von einem Abort aus. So erschrecke ich auch nur noch mäßig, als ich tatsächlich im blutverschmierten Bad eine Frau sitzend auffinde, zwischen deren Beinen ein Baby scheinbar leblos auf dem Fliesenboden liegt. Ich stelle mich der Patientin vor und sage ich möchte nach dem Kind schauen. Überraschenderweise stelle ich fest, dass das Kind atmet, etwas grimassiert und beginnt leise Töne von sich zu geben. Der Herzspitzenstoß ergibt eine Frequenz von ca 70/min. Die Nabelschnur ist dünn und pulsiert nicht mehr. Die Frau gibt an, nach nur wenigen Minuten mit Bauchschmerzen sei das Kind plötzlich und unerwartet sowie sehr schnell auf der Toilette zur Welt gekommen. Sie ging davon aus, dass es tot sei und hat ihren Mann auf der Arbeit angerufen. Dieser verstand seine weinende Frau nicht und fuhr schnellstmöglich nach Hause. Dort fand er die beschriebene Situation vor und setzte daraufhin den Notruf ab. Somit gehe ich davon aus, dass das Kind ca. eine halbe Stunde vor meinem Eintreffen geboren wurde. Das Baby wickelte ich schnell in ein Handtuch und legte es der weiterhin schockierten Frau auf den Bauch. Der Status der Frau ist folgendermaßen: Die Atemwege sind frei, die Frau hyperventiliert und gibt keine Atemnot an, die Raumluftsättigung ist bei 93%. Sie ist tachykard bei 120/min, der Blutdruck ist bei 100/60mmHg. Sie ist aufgeregt und fahrig, ansonsten gibt es keine neurologischen Auffälligkeiten. Im Bad findet sich viel Blut, aber es lässt sich schwer abschätzen, aktuell blutet die Frau nicht auffällig, die Nachgeburt ist noch nicht erfolgt.
Mit Hilfe der eingetroffenen RTW-Besatzung wird das Kind zügig abgenabelt. Während der NFS des RTW die Frau weiter betreut und versorgt nehme ich zusammen mit der Kollegin vom RTW das Kind mit ins Wohnzimmer. Wir stimulieren es kräftig und packen es warm in eine Silberwindel und Handtüchern ein. Daraufhin steigt die Herzfrequenz zügig auf ca 120/min und es lässt sich eine Sättigung von 90% messen. Daraufhin verzichten wir auf eine Sauerstoffgabe und Anlage eines Venenzugangs. Einen Baby-NAW hatte ich per Handy parallel zur Erstversorgung bereits alarmiert. Das Neo-Team legte schlußendlich einen Venenzugang und transportierte das hypotherme und stellenweise weiter bradykarde Kind mit der Verdachtsdiagnose Adaptationsstörung nach „Sturzgeburt“ in die zuständige Kinderklinik mit Neonatologie. Das Baby profitierte vom warmen Transportinkubator sehr und erholte sich zunehmend. Die Mutter stabilisierte sich ebenfalls nach Gabe von 1000ml kristalloider Lösung und einfühlsamer Betreuung. Die Nachgeburt erfolgt schließlich verzögert in der Klinik mit vergleichsweise viel Blutkoageln, der Hb beträgt schlußendlich 8,0.
Die Challenge bei diesem Einsatz war zweifelsohne die den Eltern unbekannte Schwangerschaft. Über die tatsächlichen und tieferen Gründe soll es hier gar nicht gehen und ich möchte weder spekulieren noch urteilen. Es ist wie es ist und ich möchte hier auch keinen Shitstorm auslösen. Ich möchte es vielmehr rein medizinisch betrachten: Die Versorgung einer Geburt bzw eine Neugeborenenversorgung war mir soweit klar (siehe auch die beiden anderen Blog-Beiträge zur Geburt). Aber es ist schon seltsam wenn man nicht weiß wie lange die Schwangerschaft besteht und ob es Auffälligkeiten gab. Die ganzen Informationen aus dem vertrauten Mutterpass fehlen. Stattdessen kam das Kind unter ungünstigsten Umständen unbetreut sehr schnell innerhalb weniger Minuten zur Welt. Eine Neugeborenenversorgung im eigentlichen Sinne fand nicht statt und das Kind kühlte auf dem Fliesenboden und normaler Raumtemperatur innerhalb der ersten halben Stunde aus. Die Abnabelung erfolgte erst ca. eine halbe Stunde nach Geburt. Es war mir mit den vorhandenen Mitteln kaum möglich das Kind aktiv zu wärmen, mein Maximalziel war eigentlich die Verhinderung einer weiteren Auskühlung. Hierfür standen mir Handtücher und die gute alte Silberwindel sowie Körperwärme der Mutter zur Verfügung. Natürlich wurde der RTW maximal aufgeheizt, jedoch mussten die Türen mehrfach geöffnet werden.
Bin ja stolzer Vater von drei Kids, dennoch ist es mir recht schwer gefallen die Reife und das Gewicht des Kindes ab zu schätzen. Natürlich habe ich im Studium die Reifezeichen eines Neugeborenen mal gelernt, aber in diesem Fall hatte ich den Eindruck nicht die Zeit und den Nerv zu haben das Kind dementsprechend zu untersuchen und es währenddessen weiter auskühlen zu lassen. Schlußendlich hatte es ca. 2500g und es wird eine Schwangerschaftsdauer über 30 Wochen geschätzt, somit war es recht reif und es kam zu keinen schwerwiegenderen bzw. anhaltenden Adaptationsstörungen.
Logistisch/organisatorisch ist solch ein Einsatz in einem ländlichen Flächenlandkreis eine ziemliche Herausforderung. Zunächst war ich ganz allein, dann kam ein zweiköpfiges RTW-Team hinzu. Der Baby-NAW blockierte einen weiteren RTW für längere Zeit. Aus technischen Gründen konnte kein luftgebundener Inkubatortransport erfolgen, so dass nur das Neo-Team per Hubschrauber zugebracht wurde und der Inkubator per RTW nachrückte. Der Helikopter übernahm schlußendlich dann den Transport der Mutter, so dass wir zumindest als NA und RTW wieder frei waren und die Gebietsabdeckung somit übernehmen konnten.
Fazit: Algorithmen helfen in vital bedrohlichen und zeitkritischen aber oft seltenen Situationen die Handlungsfähigkeit zu erhalten. Daher bin ich von algorithmen-basierten Arbeiten überzeugt. Dennoch gibt es vereinzelt Situationen, wo ich diese Hilfen nicht 1:1 einsetzen kann und daher improvisieren muss. Dafür ist eine dezidierte Kommunikation und ein sauberes Anwenden eines CRM notwendig, um die Kontrolle über die Situation zu behalten.
Daher möchte ich an dieser Stelle nochmal kurz zur Wiederholung die CRM-Leitsätze (nach Gaba und Rall) auf die aktuelle Situation übertragen:
1.) Kenne Deine Arbeitsumgebung
a. Klar weiß ich wo das Geburtenset ist, aber man kramt doch länger als in der Zugangstasche. Haben wir eine aktive Wärmequelle ohne Verbrühungsgefahr dabei?
2.) Antizipiere und plane voraus
a. Sofortige Nachalarmierung des Baby-NAW auch ohne abgeschlossene Erstversorgung des Neugeborenen, denn das Neo-Team wird so oder so nötig sein.
3.) Fordere Hilfe an – lieber früh als spät
a. Siehe 2. Anforderung Baby-NAW. Was, Hubschrauber kommt? Bergwacht zur Einrichtung Landeplatz nachalarmieren.
4.) Übernimm die Führungsrolle oder sei ein gutes Teammitglied mit Beharrlichkeit
a. Bis zum Eintreffen des Baby-NAW muß ich wohl die Behandlung beider Patienten leiten, mein Team wird mich aber maximal unterstützen.
5.) Verteile die Arbeitsbelastung (10-für-10-Prinzip)
a. Kollege des RTW kümmert sich um die Mutter, seine Kollegin hilft mir bei der Neugeborenenversorgung
6.) Mobilisiere alle verfügbaren Ressourcen (Personen und Technik)
a. Siehe 2. und 3.
7.) Kommuniziere sicher und effektiv – sag was Dich bewegt
a. Wiederholte Absprache über den aktuellen Stand und das weitere Procedere. Adressieren, dass sich der Zustand von Mutter und Kind stabilisiert.
8.) Beachte und verwende alle vorhandenen Informationen
a. Die Crux dieses Einsatzes, da es viele Fragezeichen gab? Welche Schwangerschaftswoche? Reifes Kind? Konsequenz der späten Abnabelung und der Hypothermie sowie initialen Bradykardie. Keine Infos über mütterliche wie kindliche Risiken. Folgen der sehr schnellen Geburt?
9.) Verhindere und erkenne Fixierungsfehler
a. Die Versorgung der Mutter darf nicht durch die Neugeborenenversorgung vernachlässigt werden.
10.) Habe Zweifel und überprüfe genau (Double check; nie etwas annehmen!)
a. Regelmäßige Kontrollen der Uteruskontraktion und der vaginalen Blutung nach Geburt
11.) Verwende Merkhilfen und schlage nach
a. Wie war der Algorithmus Neugeborenenversorgung nochmal?
12.) Re-evaluiere die Situation immer wieder (10-für-10-Prinzip)
a. Notfallsituationen sind immer dynamisch, stabilisiert sich wirklich anhaltend der Zustand von Mutter und Kind?
13.) Achte auf gute Teamarbeit
a. Hab ich ein Glück und bin gesegnet so viele liebe Menschen um mich zu haben!
14.) Lenke Deine Aufmerksamkeit bewußt
a. Egal was mit der Schwangerschaft war, nun geht es um das jetzt und hier. Aufklärung der Fragen hat später noch Zeit.
15.) Setze Prioritäten dynamisch
a. Kind ist nun versorgt und soweit stabil, nun lege ich meinen Fokus wieder mehr auf die Mutter...
Wie jeder Einsatz war auch dieser keine Heldentat von mir und kein Einsatz ist zu 100% perfekt. Es gibt immer Optimierungspotential, keine Frage.
Ich wollte Euch aber mit in die Situation nehmen, damit ihr auch Eure Schlüsse daraus ziehen und somit davon lernen könnt, wobei ich Euch wünsche nicht auch in solch eine Situation mit so vielen unbekannten Variablen zu kommen.