Rettungsdienstliche Systemkritik

Nach meinen Beiträgen zur notärztlichen Systemkritik und zur Motivation will ich nun ein verwandtes Thema aufgreifen, welches mich sehr beschäftigt.

1998 habe ich erstmals meinen Fuß bewußt in eine Rettungswache gesetzt (F.... 20 Jahre) und habe dort wahrlich an vielen Standorten unglaublich viel Zeit verbracht. Erst als ehrenamtlicher Rettungssanitäter, dann Zivi, gefolgt von hauptamtlichem RS, RA-Ausbildung und schließlich nochmal sieben Jahre nebenberuflicher RA während des Studiums, ehe ich dann als Arzt einen Rollenwechsel vollzogen habe. Zwar ist dies auch schon wieder acht Jahre her, aber ich bilde mir bei meinem guten Kontakt zu einer Vielzahl von rettungsdienstlichen Kollegen weiterhin ein, dass ich mir eine Meinung bilden kann und darf.

Ich sehe es aktuell mit größter Beunruhigung, dass egal wo ich mich rettungsdienstlich herum treibe offensichtlich die Stimmung leidet und massiv schlechter geworden ist. Klar haben wir damals auch immer schon viel gestöhnt und unsere Konflikte ausgetragen, aber mein Eindruck ist, dass man aktuell sich in einer ganz anderen (schlechteren) Dimension befindet.

Und dies betrifft eben nicht nur einen Rettungsdienstbereich, sondern scheint annähernd überall der Fall zu sein.

Es scheint sich auch nicht nur auf einen Rettungsdienstträger zu beschränken. Alle Organisationen und Firmen dürfen/können/müssen es ggf.  mit kleinen Abstrichen auf sich beziehen. Allerdings möchte ich meine Freunde aus der Schweiz ausklammern, ich denke hier ist es "noch" besser bzw. es herrschen ganz andere Verhältnisse und Strukturen.

Ich maße mir auch nicht an alle Problemfelder angemessen erfasst zu haben, aber ich glaube einen Einblick habe ich schon. Kann mir zudem auch gut vorstellen, dass mir viel widersprochen werden wird und ich vielleicht auch einstecken muss. Dabei ist es eigentlich unnötig, denn ich will niemanden ärgern oder gar schaden, im Gegenteil. Ich will zum Nachdenken und zur Diskussion (gern auch kontrovers) anregen, da man nur so Bewältigungsstrategien entwickeln kann.

Sehr interessant finde ich, dass es im persönlichen Gespräch heißt, es seien lokale Schwierigkeiten und Probleme, nur erzählen mir Alle eigentlich das Gleiche.... es scheint also kein lokales, sondern viel weiter verbreitetes Problem zu sein.

Auf jeden Fall ist ein hoch komplexes Konglomerat an Widrigkeiten, welches man auch nicht verallgemeinern sollte, aber es halt schwer zu fassen macht. Andererseits kann man dadurch auch viele verschiedene positive Ansatzpunkte definieren, als wenn es nur ein solitäres, aber dafür übermächtiges Problem gäbe.

Die kommende Reihenfolge soll keine Wertung darstellen, sondern ist eine lose Abfolge:

Als RA/NFS verdient man zu wenig Geld, dem stimme ich auch zu. Allerdings gibt es aber wohl auch viele Rettungswachen, auf denen die Einsatzzahlen und somit die Arbeitsbelastung niedrig ist. Mit diesen Wachen lässt sich auch nicht viel Geld verdienen, was sich auch in den Löhnen widerspiegelt. Rettungsdienst ist eine anstrengende und mitunter auch belastende Tätigkeit, aber wir müssen nur beispielhaft andere Berufsbilder im Gesundheitswesen betrachten und sehen sofort, dass es unglaublich schwer ist eine ausgeglichene, faire und leistungsbezogene Bezahlung zu erreichen (und ob dann der Rettungsdienst im Vergleich zu anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen gut wegkommen würde, weiß ich auch nicht...).

Die Nachwuchswerbung im Rettungsdienst mußte sich in den vergangenen Jahren nach Wegfall der Wehrpflicht/Zivildienst komplett verändern, doch leider haben diese veränderten Ansprüche viele Organisationen verschlafen, zumal es in einer Zeit begann, in der es mehr als genug Personal gab - aber diese Zeiten sind nun schon einige Jahre vorbei. Dies hat mit einem gewissen Zeitverzug relevant zum aktuellen Personalmangel beigetragen und man muss nun größte Anstrengungen unternehmen neues hoch qualifiziertes Personal zu rekrutieren uns aus zu bilden. Ebenso trägt der hohe Krankenstand bei, der natürlich vielfältige mehr oder minder nachvollziehbare Gründe haben kann, aber positiv ausgedrückt sollte man dringend die Angebote der betrieblichen Gesundheitsförderung ausbauen und attraktiv gestalten, da dies den Krankenstand nachweislich reduziert und gleichzeitig die Arbeitszufriedenheit steigert.

Die Zahl und Art der Einsätze hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Die Einsatzzahlen sind stark angestiegen, die Alarmierungsschwelle hingegen gesunken. Zum Einen erreichen die Leitstellen immer mehr Anrufe, aufgrund rechtlicher Limitierungen und durch betriebsinterne Androhung von Konsequenzen alarmieren die Disponenten recht großzügig Fahrzeuge der Notfallrettung. Auch die Anspruchshaltung der Patienten und ihren Angehörigen ist deutlich merkbar gestiegen. Diese stark gestiegenen Patientenzahlen führen dann sekundär aber auch zu reduzierten Aufnahmekapazitäten der Krankenhäuser, spürbar durch überfüllte oder sogar abgemeldete Notaufnahmen. Die niedergelassenen Hausärzte können aus vielerlei und zumeist auch nachvollziehbaren Gründen oft nicht zeitnah dringende Hausbesuche sicherstellen.Hier sind Leitstellen, Rettungsdienste, niedergelassene Ärzte und Notaufnahmen dringend aufgefordert pragmatisch und konstruktiv zu kooperieren, um eine zügige, zeitnahe und hoch effektive Notfallversorgung gewährleisten zu können.

Ein weiteres Problem ist die zunehmende Zahl von Tätigkeiten gegen das Rettungsdienstpersonal. Berichte über körperliche Bedrohungen und Angriffe sind leider keine Seltenheit mehr. Eine Aufrüstung des Personals mit (Verteidigung-) Waffen macht in meinen Augen aber keinen Sinn, weil ich noch nicht erlebt habe, dass durch dessen Einsatz sich eine bedrohliche Situation entschärfen ließ... ganz im Gegenteil...Vielmehr sehe ich einen hohen Schulungsbedarf für eine verbesserte Sensibilität gegenüber bedrohlichen Situationen sowie zu taktischem Verhalten und deeskalierenden Massnahmen. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass es in Zukunft immer mehr Einsätze gemeinsam mit der Polizei abgewickelt werden sollten, zuvor müßte aber die Kooperation durch gemeinsame Schulungen verbessert werden. Bedingt durch die Polizeiindikation des Hubschraubereinsatzes erlebe ich in der Schweiz viele gemeinsame Einsätze und kann hier nur Gutes, insbesondere in potentiell bedrohlichen Situationen, berichten.

Immerhin erscheint in meinen Augen die Diskussion zwischen haupt- und ehrenamtlicher Besetzung der Fahrzeuge notgedrungen abgeflacht zu sein. Was gab es da nicht schon alles für oft emotional geführte Diskussionen über Routine/Erfahrung, fachlicher Qualifikation, Motivationslage etc. - traurig aber wahr ist man vielerorts heute froh, dass man überhaupt noch Personal findet.

In meinen Augen ist ein, vielleicht sogar das größte Manko des Rettungsdienstes, die wenigen Entwicklungschancen. Die Berufsanfänger im Rettungsdienst sind in der Regel recht jung und die Ausbildung dauert maximal drei Jahre, danach gibt es mehr oder minder keine ernst zu nehmenden und relevanten Entwicklungschancen mehr. Zu dieser Zeit beginnt in den meisten anderen Branchen die berufliche Entwicklung erst und dauert viele Jahre an. Wenn ich nun in meinem letzten Blogbeitrag auf die Wichtigkeit und Bedeutung von Zielen in Bezug auf die Motivation hingewiesen habe liegt hier nun der (negative) Zusammenhang nahe.

Und selbst wenn es einem gelingt eine gewisse Führungsaufgabe zu ergattern, wird man oft nicht adäquat auf diese Führungs- und Managementtätigkeit vorbereitet bzw. ausgebildet, was nicht selten dazu führt, dass die Mandatsträger ihren Aufgaben nicht adäquat gerecht werden können. Hier sind die Bildungseinrichtungen gefordert diesem spezifischen Schulungsbedarf gerecht zu werden. Leider sind auch in vielen Betrieben die Auswahl- und Vergabeverfahren von Leitungsfunktionen nicht transparent, was zu viel Neid und Unmut unter den Bewerbern und auch der restlichen Belegschaft führt. Zumeist auch nicht grundlos, denn nicht selten fehlt es auch an objektiven Maßstäben des Bewerberassessments. Aber hier müßte man das Rad nicht neu erfinden, sondern könnte von den Erfahrungen anderer Branchen profitieren und nach passenden Modifikationen hier faire und objektive Maßstäbe schaffen.

Schwierig ist es auch für den Einzelnen die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten innerhalb der Firma/Organisation zu differenzieren. So wird nicht selten über "die Organisation/Firma XY" geschimpft, obwohl es nicht zielführend ist zu pauschalisieren. Was der Wachenleiter zu verantworten hat (Bsp. Arbeitsplan) hat nichts mit der Rettungsdienstleitung (Bsp. Urlaub oder Materialbeschaffung) zu tun. Als nächste Institution ist vielleicht die Geschäftsführung zu nennen (Finanzplanung, Schichtplangestaltung), gefolgt vom Landes- und Bundesverband. Auf allen Stufen gilt es Entscheidungen zu treffen, die mitunter für den Mitarbeiter nicht angenehm sind, es sollte nicht verallgemeinert werden, in dem man seinen Unmut nur über die Organisation an sich äußert. Dies ist zwar jedem klar und wird daher oft vehement dementiert, dennoch geschieht es aber offensichtlich weiterhin...

Weiter ist es halt so, dass man v.a. auf nicht so einsatzstarken Rettungswachen verglichen mit anderen Berufsgruppen recht viel Zeit für einen kritischen Dialog hat. Da dabei aber die entsprechenden Entscheidungsträger zumeist nicht anwesend sind und die Anwesenden die selben Probleme haben, schaukelt sich die Stimmung mitunter hoch ohne zur Problemlösung beitragen zu können. Hier wäre einer Personalpolitik der offenen Tür mit guter und steter Erreichbarkeit der Entscheidungsträger für die Mitarbeiter hilfreich.

Manchmal hat man zwar eine ausgiebige einsatzfreie Zeit, was aber nicht schmälern soll, dass der Beruf des Rettungsdienstmitarbeiters körperlich wie mental sehr anstrengend ist. Die entsprechenden Ressourcen des einzelnen Mitarbeiters werden nicht selten ausgereicht und manchmal auch überschritten. Hier gibt es häufig keine Hilfsangebote wie eine betriebliche Gesundheitsfürsorge (Bsp. Sportangebot) oder eine Supervision-/Mediations-/Kriseninterventionsmöglichkeiten bei unterschiedlich schwierigen Situationen, wie sie bsp. bei Berufsfeuerwehren oder der Polizei besser organisiert zu finden ist. 

Das Problem der rechtlichen Grauzone hat sich meiner Meinung nach durch das NotSan-Gesetz bzw. durch deren zaghaften Umsetzung (nennen wir es mal so) nichts verändert. Viele Hoffnungen wurden in diese Gesetzesnovellierung gelegt, die sich aber in vielerlei Hinsicht nicht erfüllt haben. Es gibt auch abseits der medizinischen Kompetenzen viele Möglichkeiten im Rahmen der dienstlichen Tätigkeit auch ohne böse Absicht gegen Gesetze und Verordnungen zu verstoßen. Diese rechtliche Bedrohung trägt natürlich maßgeblich zur Unzufriedenheit bei. Auf allen Ebenen sollte hier an einer konstruktiven sowie unbürokratischen Lösung aktiv und intensiv gearbeitet werden.

Wie in allen sozialen Berufen gibt es auch im Rettungsdienst Mitarbeiter, die keinen sozialen Ausgleich abseits der beruflichen Tätigkeit haben, umgangssprachlich sagt man "er/sie wohnt auf der Rettungswache". Alles dreht sich dann um diese auch soziale Gemeinschaft. Die Betroffenen haben ein hohes Risiko der Frustration und des Burn-Out. Gerade wenn die Kammeradschaft auf einer Rettungswache gut und stark ausgebildet ist sollte man gegenseitig darauf Acht geben, dass es noch ein Leben außerhalb der "Firma" gibt.

...

Leider ist die Aufzählung nicht vollständig und es gibt bedauerlicherweise noch mehr relevante Problemfehler, aber ich denke es ist jetzt besser auf zu hören... Vielmehr wollte ich ja "nur" darauf hinweisen, wie vielschichtig die Probleme des Rettungsdienstes bzw. seiner Mitarbeiter sind. Weder die Mitarbeiter selbst noch die Entscheidungsträger auf allen Ebenen und Institutionen dürfen davor die Augen verschließen, denn sonst geht die größte Ressource des Rettungswesens verloren - das Personal! Jeder muss nach seinen Möglichkeiten an der Verbesserung der einzelnen Problemfelder aktiv, intensiv und konstruktiv arbeiten - denn die Gefahr ist essentiell und bedrohlich, es geht um die Zukunft der präklinischen Notfallmedizin! Es macht keinen Sinn auf Kongressen und  durch wissenschaftliche Studien an Nuancen zu feilen, wenn die tatsächlichen Probleme und Bedrohungen einer effektiven und modernen Notfallmedizin an anderer Stelle und zudem noch viel größer sind.

Mir ist klar, dass ich mit diesem Beitrag vielen Leuten auf die Füße trete und heftige Kritik zu hören bekommen werde. Dies werde ich aber so gut es geht an mir abprallen lassen, weil es mir um die Kollegen und um eine Verbesserung der Notfallmedizin geht. Hierzu ist es manchmal wichtig "in ein Wespennest zu stochern" oder "Öl ins Feuer zu gießen" um im guten Sinne auf zu rütteln. Ich will explizit nicht in den pauschalen Klagegesang einstimmen, sondern dazu aufrufen das vermeintliche "Schicksal" in die Hand zu nehmen und sich aktiv ein zu bringen.

Daher kann ich damit leben, wenn getroffene Hunde bellen, weil ich mahnend die Stimme, auch gegenüber den pauschalen Meckerern und Nörglern erhoben habe. 

 

 

Sollte sich jemand hiervon persönlich angegriffen fühlen, tut es mir leid, dies ist nicht meine Absicht.

 

Abschließend möchte ich noch auf die sogenannten fünf psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen hinweisen, wie sie von Denise Mourlane sehr gut im empfehlenswerten Buch "emotional LEADING" dargestellt werden:

1.) Das Bedürfnis nach Bindung

2.) Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle

3.) Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

4.) Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz

5.) Das Bedürfnis nach Kohärenz

(... sowie das Streben nach Balance...)

Es würde hier den Rahmen sprengen jetzt detailliert diese wissenschaftlich nachgewiesenen und fundierten Grundbedürfnisse mit den genannten Problemfeldern der Tätigkeit im Rettungsdienst in Verbindung zu bringen. Dies überlasse ich jetzt lieber als eine Art Hausaufgabe dem Leser selbst. Schnell erkennt man, wie die genannten Widrigkeiten genau dadurch zum relevanten Problem werden, weil sie unsere Grundbedürfnisse angreifen. Und so eröffnen sich vielleicht auch ein paar Wege, wie man (selbst) diesen Bedürfnissen etwas besser gerecht werden kann.