"Oh Du Fröhliche"...Es begab sich zu der Zeit, wo der Schwiegervater am 2. Weihnachtsfeiertag schmerzverzerrt nach Fahrradsturz vor der Türe steht. Er musste einem Auto ausweichen und kam so zu Fall. Er merkte umgehend, dass etwas mit der Schulter nicht gut ist und schob das Fahrrad tapfer ca. 500m zu mir nach Hause. Mir fiel zügig auf, dass die Schultergelenkspfanne links leer war, ansonsten hatte er sich bis auf ein paar Schürfungen glücklicherweise keine weiteren Verletzungen zugezogen.
Doch nun, was tun?
Szenario 1: RTW alarmieren, mit meine Equipment als First Responder eine Analgosedierung durchführen und versuchen die Luxation selbst zu reparieren. Anschließend Transport durch den RTW zur radiologischen Abklärung ins KH.
Szenario 2: Transport ohne Repositionsversuch ins KH.
Da ich mir aufgrund der extremen Schmerzen nicht sicher war, ob nicht auch der Humeruskopf gebrochen war und zudem pDMS intakt war, verzichtete ich auf ein Repositionsmanöver und somit für Szenario 2. Auf Patientenwunsch führte ich selbst den Transport ohne vorherige Analgesie durch.
In der Klinik viel uns Beiden ein Stein vom Herzen, als radiologisch eine Fraktur ausgeschlossen werden konnte. Glücklicherweise gelang auch problemlos die anschließende Reposition in Analgosedierung. Noch am gleichen Tag konnte er nahezu schmerzfrei entlassen werden, MRT und Vorstellung beim Schulter-Experten erfolgt im Intervall.
Eigentlich war für mich hier nur die familiäre Bekanntschaft eine Besonderheit für mich, ich weiß nicht wieviele Schulterverletzungen ich bereits gesehen bzw. offensichtliche Luxationen ich bereits reponier habe. Doch beim Schwiegervater war ich auf einmal bei fehlendem Zugzwang (pDMS intakt) nicht mehr so mutig und wollte schon vorher gerne den radiologischen Frakturausschluss. Dennoch handelte es sich hier um einen "Routineeinsatz", doch es lohnt sich "aus aktuellem Anlass" dazu noch nochmal die Bücher auf zu schlagen, was denn hierzu nochmal geschrieben steht:
Immer mehr liest man jedenfalls, dass man es sich bei unbeeinträchtigter pDMS und fehlender radiologischer Diagnostik gut überlegen soll, ob man repariert. Ich persönlich mache es von der Unfallkinetik abhängig: Beim Schwiegervater war ich mir unsicher, bei der 19jährigen Volleyball-Spielerin, die sich ohne Trauma im Spiel eine Re-Luxation zugezogen hat war für mich die Sache klar. Man darf daher schon mal sachte in Frage stellen, ob die Schulterreposition als NA wirklich noch eine (zu verlangende) ggf. fachfremde Routinetätigkeit ist...
Was sagen aber nun die Lehrbücher? (man verzeihe mir die rustikale aber in meinen Augen pragmatische Vereinfachung)
Erstmalig kommt es i.d.R. nur bei maximaler Gewalteinwirkung zu einer Schulterluxation. Kommt es konsekutiv zu einer Verletzung des Band-/Gelenkapparats, kann es schneller und einfacher zu einer erneuten Re-Luxation kommen. Meistens handelt es sich um eine ventrale (vordere) Luxation, viel seltener um eine kaudale oder dorsale Luxation. Eine Reihe von Begleitverletzungen mit und ohne klinische Relevanz können vorkommen, so dass auch nach problemloser Reposition eine Abklärung beim Experten angezeigt ist.
Unglaublich viele Repositionstechniken mit und ohne Analgosedierung wurden beschrieben, neben den einschlägigen Lehrbüchern empfehle ich hier auch YouTube & Co. Schlußendlich kommt es meiner Meinung nach nicht auf die Technik an sich, sondern vielmehr auf die Übung und Erfahrung damit drauf an. Für "learning by doing" eignet es sich sicher nicht: Bestenfalls gelingt es nicht, im schlechteren Fall setzt man weitere Verletzungen. Man bedenke bitte auch bei Analgosedierung, dass man dann zwei "Baustellen" hat die bewältigt werden wollen und dementsprechend das Behandlungsteam aufgestellt sein muss. Es wäre nicht der erste Patient, der unter Analgosedierung während des Repositionsmanövers hypoxisch wird...
Essentiell sind auch hier wie eigentlich immer die Basics: pDMS vor und nach der Reposition, suffiziente Schienung/Lagerung, gute Schmerztherapie, ggf. Kühlung...
Man sollte es sich schlußendlich also doch trotz "Routineeinsatz" (wenn es sowas überhaupt gibt) nicht zu einfach machen.
Ich fürchte ich kann diese Verletzungsentität hier nicht angemessen und erschöpfend darstellen, sondern kann nur dazu aufrufen und motivieren sich nochmal selbst nach eigenen Kenntnissen, Kompetenzen und Erfahrungen auf Recherche zu begeben, wie man persönlich künftig mit derartigen Einsätzen umgehen will. Wie immer ist es nicht so wichtig was man tut, sondern wie man argumentiert und begründet bzw. mehrere Varianten abwägen kann. Es ist auch hier wichtig ein gutes für einen selbst zugeschnittenes und vorher definiertes "Kochrezept" zu haben.
Noch zwei weiter persönliche Lehren (und sicher diskussionswürdige Punkte) aus dieser Situation:
1.) Verwunderlich, wie schnell man bei persönlicher Bekanntschaft vom gewohnten Procedere der Rettungsdienst-Alarmierung abweicht und selbständig ohne Analgesie den Transport durchführt.
2.) Bedenklich, wie schnell man die Dauer bis zur maximalen Wirkung (und maximalen Nebenwirkungseffekt) vergisst, wenn man den schmerzgeplagten Patienten persönlich kennt und geneigt ist (zu) schnell nach zu titrieren. (Wobei ich betonen möchte, dass es hier nicht zu negativen Konsequenzen kam, sondern ich nur verwundert war, wie hoch die Dosis innerhalb kurzer Zeit gewählt wurde).
Quellen (sicher nicht ganz aktuelle Ausgaben, aber vermutlich nicht grundsätzlich falsch):
Taschenlehrbuch Orthopädie und Unfallchirurgie, Nikolaus Wülker, Thieme
Die Notfallmedizin, Burkhard Dirks et al., Springer
Notfallmedizin, Jens Scholz et al., Thieme
Tintinalli`s Emergency Medicine, Judith E. Tintinally, Mc Graw Hill Education