Heute Abend habe ich es tatsächlich mal geschafft einen Jahresrückblick im Fernsehen an zu schauen, schon toll wenn man mal frei hat ;-) Allerdings habe ich es auch diesmal nicht geschafft meine berufliche Brille ab zu nehmen: Was nicht alles dieses Jahr passiert ist, was auch relevante akutmedizinische Auswirkungen hatte: Naturkatastrophen, Großunfälle, Krankheitsepidemien, kriegerische Auseinandersetzungen , Terrorlagen und sonstige Gewalttaten usw...
Ich sitze dann auch wie jeder gemeine Fernsehzuschauer schockiert da, bin ergriffen über das Geschehene und zugleich froh, auch dieses Jahr wieder mit heiler Haut davongekommen zu sein. So lange diese schrecklichen Ereignisse weit weg sind bekommt man sich ja auch noch zügig beruhigt, deutlich schwerer fällt es wenn "die Bomben immer näher einschlagen" oder man gar einen persönlichen Bezug zu einem Ereignis hat (Das Wort "Unglück" ist für mich immer schon dahingehend ein Wortwitz).
Glücklicherweise gibt es viele Berichte über vorbildliche Bewältigungen der Szenarien, beispielhaft in Paris, London oder Las Vegas. Wie kam es zu diesen Vorzeigebeispielen?
1.) Alles sind Metropolen mit einem dichten Netz an akutmedizinischen Einrichtungen sowie einem gut aufgestellten Rettungsdienst.
2.) Alle genannten Städte sind leider "leidgeprüft", sprich es war nicht das erste Großereignis.
3.) Es hat im Vorfeld bereits suffiziente Planungen und entsprechende Übungen gegeben.
...
Ich möchte nun im Folgenden auf gar keinen Fall den Kollegen hierzulande auf die Füße treten, die sich ehrenhaft im Bereich der Großschadenslagen und Katastrophenmedizin dankenswerter- und respektablerweise engagieren, sondern sie vielmehr in ihren Bemühungen ermutigen und unterstützen!
Wie sieht es denn hierzulande regional abseits der großen Metropolen aus? Ich weiß nicht, wie es Euch so geht, aber ich lebe und arbeite in einem trinationalen Umfeld, wo es regelhaft schwierig wird nur einen einzigen Schockraumplatz oder Intensivbett zu bekommen und sehr oft alle Notaufnahmen in der Umgebung abgemeldet sind.... Klar gibt es nun einen Aufschrei: "Ja aber wenn nun ein Großereignis ist, dann wäre alles anders und es stehen ganz andere Ressourcen zur Verfügung..." Aber ist das wirklich so oder gibt es diese Pläne vielmehr nur beruhigend auf dem Papier?
Übrigens, als kleiner Exkurs: Dem Patienten ist es für sich vollkommen gleichgültig, ob er ein Individualpatient oder Opfer eines Großereignisses ist, es geht um das eigene Leben, die Lebensqualität, die Teilhabe am alltäglichen und sozialen Leben, schlichtweg alles was einem lieb und teuer ist. Ist es dann nicht Hohn und Spott, wenn man sagt "ja wenn ein Großereignis ist stellen wir die notwendigen Ressourcen, für einen einzelnen Patienten können wir sie aktuell aber nicht bieten..."?
Ich denke wir sollten im Rückblick auf die Ereignisse der letzten Jahre und die dunkle Vermutung, dass es künftig nicht gerade besser wird, uns folgende beispielhafte und nicht vollständige kritische Gedanken machen:
Präklinik: Das Abarbeiten von Großereignissen ist in der rettungsdienstlichen Grundausbildung eher unterrepräsentiert bzw. in meinen Augen eher nicht ausreichend, damit die Einsatzkraft später verantwortlich in einen solchen Einsatz gehen kann. Häufig gibt es keine guten Vernetzung zwischen Personal des regulären Rettungsdienstes und dem (i.d.R. ehrenamtlichen) Personal für Großereignisse. Theoretisch sind Führungsstrukturen geklärt, aber schon bei den kleinsten Übungen oder Realeinsätzen kommt es dann bereits zu Friktionen... Die Hilfsorganisationen haben in den letzten Jahren schon viel gelernt und sich weiter entwickelt, aber sind wir wirklich "state of the art" aufgestellt für die Herausforderungen unserer Zeit? Sind unsere seltenen Übungen realistisch? Man denke da nur beispielhaft an Ausrücke- und Aufbauzeiten im Ernstfall oder die anitizipierbaren Schwierigkeiten mit den Transportkapazitäten (zu wenig Fahrzeuge insbesondere im ländlichen Bereich bzw. weite Transportstrecken). Es gibt eigentlich noch viele weitere Punkte, die hier zu nennen wären aber den Rahmen sprengen würden. Alle Aktiven der Präklinik wissen aber worauf ich hinaus will.
Im Krankenhaus: Alle Prozesse und Strukturen müssen in der Klinik optimiert sein, um im Regelbetrieb wirtschaftlich und wettbewerbsfähig zu bleiben. Für die Vorsorge und Vorbereitung auf Großereignisse fehlt schlichtweg zumeist die Zeit und das Geld, denn solche präventive Aufgaben werden zwar gefordert aber nicht vergütet. Hält man personelle wie materielle Ressourcen vor, ist es ein finanzielles Minusgeschäft. Auch größere Übungen, die über ein Planspiel hinausgehen, sind in der Regel kostenintensiv und nicht refinanzierbar. Das Personal ist schon im Regelbetrieb aus- bis überlastet, wie soll man sie nun noch zu konzeptionellen Planungen für den unwahrscheinlichen "Tag X" motivieren? Die vorliegenden Katastrophenschutzpläne der Kliniken sind in der Regel schlüßig, aber gaukeln sie vielleicht nur eine eher theoretische Sicherheit vor? Wieviel Personal kann ich wirklich nachts um 4 Uhr zusammentrommeln und welche materiellen Ressourcen stehen wirklich zur Verfügung? Sind die Ressourcen allen Mitarbeitern bekannt und die Abläufe eingeübt? Sind wirklich alle notwendige Abteilungen und Organisationseinheiten involviert und vorbereitet? Beispielsweise macht es keinen Sinn alle OP`s personell zügig besetzen zu können, wenn dann die Schwachstellen im Bereich des Labors, der Blutbank, des Zentralsteris oder der Reinigungskräfte im OP sind. Auch hier spreche ich sicherlich nur einen Teil der Probleme innerhalb der Kliniken an (und es gibt zweifelsohne auch gewaltige Unterschiede zwischen den Kliniken). Wie gut, dass übrigens im Studienplan angehender Mediziner die Katastrophenmedizin faktisch nicht oder nicht angemessen vorkommt, in der ersten Jahren der klinischen Tätigkeit kommt man dann in der Regel auch nicht dazu mit dieser Thematik auseinander zu setzen...aber wann kommt es denn dann?
Erfahrene Leser dieses Blogs kennen mich: Ich will aufrütteln und auf Probleme in meinen Augen aufmerksam machen. Man darf mir gerne den Vorwurf machen zu übertreiben bzw. zu polarisieren, ich halte es aus, denn auch wenn man sich drüber aufregt beschäftigt man sich (unfreiwillig) mit der Thematik und ich habe mein Ziel erreicht :-)
Und nein, ich habe nicht zu viele Jahresrückblicke und Katastrophenfilme gesehen, ich glaube auch nicht (und hoffe und bete dafür) an eine Großzahl an entsprechenden Ereignissen in der Provinz, aber die Ursachen für "Großereignisse" sind in meinen Augen vielfältig und ergeben in der Summe schon ein relevantes Risiko, dass man sich vorab damit beschäftigen sollte (insbesondere in Regionen, wo bereits 5 Schwerverletzte bereits ein Problem darstellen):
- Verkehrsunfälle jedweder Art: Auto, Bus, Bahn, Flugzeug, Schiffe...
- Brände, Explosionen
- Krankheitsepidemien (es gibt viele Fallberichte, wie schon ein Bus voller Nora-Erkrankter eine größere Klinik ins schlingern bringen kann, von schlimmeren (und a.e. infektiösen) Erkrankungen ganz abgesehen.
- Terrorlagen, Amok, Geiselnahmen, aber auch Massenschlägereien oder Reizgaseinsatz
- Bombenentschärfungen mit der Notwendigkeit großer Evakuierungen (ggf. mit Pflegeheimen oder gar Krankenhäusern)
- Naturkatastrophen (Erdbeben, Brände, Überschwemmungen,...)
- Sportliche Großveranstaltungen, die aus dem notfallmedizinischen Rahmen laufen (Hitze, Kälte, Nässe, insuffiziente Ressourcen vor Ort,...)
- Intoxikationen mit vielen Betroffenen
u.v.m.
Und ein Hinweis sei mir noch erlaubt, auch wenn der Artikel bereits wieder (zu) lang ist: Auf die Frage, warum denn die Bewältigung einer Großschadenslage sehr gut funktioniert habe, bekommt man zusammengefasst meist eine Antwort: "Alle haben gut zusammengearbeitet, man hat sich als Team empfunden, alles ging Hand in Hand, plötzlich hat man das Kriegsbeil des Alltags begraben...."
Man kann natürlich auch künftig auf dieses Glück hoffen, oder wir lernen proaktiv daran zu arbeiten. Bedingungsloses Teamwork und andere non-technical skills sollten, nein müssen meiner Meinung nach mehr zu Fortbildungsthemen werden. So kann man sich praxis- und realitätsnah manch branchenfremdes Teamtraining oder Erlebnispädagogik-Event sparen. Wichtig ist schnell allen Beteiligten klar zu machen: Wir haben ein gemeinsames Ziel, welches wir mit allen Mitteln und im Sinne unserer Patienten bewältigen wollen, egal aus welchem Grund und welcher Art auch die Herausforderung ist.
Lasst uns mit realistischem Augenmass entschlossen den Herausforderungen unserer Zeit ins Auge blicken und proaktiv damit umgehen, denn wenn man erst im Realfall reagieren muss, stehen die Chancen gut dem Ereignis nur hinterher zu laufen. Man wird nicht alle Bemühungen refinanziert bekommen, aber deswegen sollten wir nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern eher politisch aktiv werden, damit sich die Verhältnisse verbessern.
Nichts desto trotz wünsche ich ein gutes neues Jahr und hoffe inständig, dass der o.g. Krug auch kommendes Jahr an mir und uns vorüber geht. Und wenn nicht: Be prepared!